Menschlichkeit

0 comments
Lesezeit 3 Minuten

Belebter Bahnhof. Ein Einbeiniger stammelt am Boden sitzend irgendetwas, um auf sich aufmerksam zu machen. Viel mehr darauf, dass er Geld möchte. Eine Dame geht an ihm vorbei. Sie ist auf ihr Handy fokussiert. Vor einigen Minuten hat sie mir noch abfällig entgegnet, dass an Menschen wir mir die Gesellschaft zugrunde geht. Was erlauben wir uns eigentlich, wenn wir Menschlichkeit fordern?

Ich habe einige Wochen im Zug Fahrkarten kontrolliert. Aus Interesse am Beruf. Ich reise gerne. Ich mag es, für kurze Zeit mit unterschiedlichen Menschen in Kontakt treten zu dürfen. Aus Interesse am Menschen.

Es ist 4 Uhr Morgens. Der Lokführer begrüßt mich aufgebracht mit den Worten: „Ey, ist hier noch keiner durch den Zug? Es mieft hier, dass mir alles hoch kommt.“ Der Herkunft auf den Grund gehend, stoßen wir auf einen Kerl.

Aus seinem Schlaf gerissen entgegnet er uns, auf seiner nächtlichen Fahrt eingeschlafen und dadurch über sein Ziel hinaus hier am Endbahnhof eingesperrt worden zu sein. Obwohl seine erklärte „Gefangennahme“ aus mehrerlei Gründen nicht möglich ist, und er uns damit angelogen hat, erlaube ich ihm, die paar Stationen bis zu seinem eigentlichen Ziel mit mir zurückfahren zu dürfen. Ohne ein Ticket dafür lösen, dafür aber bitte umgehend seine Schuhe anziehen zu müssen.

Der Zug setzt sich in Bewegung. Und auch ich an das andere Ende.

Dort sitzt ein gut gekleideter junger Mann. Er ist allein und bittet mich, ihm ein Ticket zu verkaufen. Dass er lallt beschäftigt mich weniger als die Frage, was ihn mir gegenüber außergewöhnlich respektvoll macht. Er ist kleinlaut. Seine EC-Karte aus der Innentasche seiner rot-schwarz karierten Jacke hervorholend, hält er sie mir mit den Worten entgegen: „Die geht jetzt wahrscheinlich nicht!“ Als ob er gerade gesagt hätte: Setzen Sie sich!, setze ich mich ihm in aller Ruhe gegenüber.

Gutmütig lächelnd sage ich: „Okay. Ihr Konto ist überzogen und sie haben auch kein Bargeld dabei; sie waren die ganze Nacht unterwegs, weil sie mit dem letzten Zug angekommen und zu weit gefahren sind. Vielleicht, weil sie eingeschlafen sind. Ist auch egal.“ Sein enormes zittern wahrnehmend füge ich hinzu: „Sie haben richtig gefroren, weil es in dieser Nacht Minusgrade draußen hatte.“ Der blonde Typ nickt: „Ich wollte am Hafen noch einen Aal kaufen. Für meinen Papa.“ „Aha. Waren wahrscheinlich wenig Fischer um Mitternacht am Hafen, hm? Darum sind sie zur Tankstelle und haben sich lieber ein Bier gegönnt.“ Ich lächle und ergänze noch: „Oder zwei, drei.“ Er lacht. „Okay“, sage ich, „kürzen wir das ab: Wo müssen sie hin?“ Er verrät mir sein Ziel, hält mir seinen Personalausweis unter die Nase und sagt: „Den brauchen Sie, wenn Sie mir jetzt die Strafe ausstellen.“

Ich ziehe meine Augenbrauen zur Stirnmitte: „’ne Strafe? Haben wir beide nichts von! Ich ruf mal meine Kollegin kurz an, dass sie auch mit ihr ohne Ticket noch nach Hause kommen.“ Bis zu seinem Umstieg unterhalte ich mich. Mein einstiges Studium zum Psychologischen Berater zahlt sich aus. Ich erfahre eine Geschichte, die mich berührt. Sie ist schwer.

Er verabschiedet sich unter Tränen, dankend dafür, dass ich ihm zugehört habe: „Du bist echt ein toller Mensch, Florian!“ Weil ich zugehört habe? Ihm Zeit geschenkt habe? Weil ich ihn wahrgenommen habe?

Der nächtlich Gefangene von vorhin ist noch im Zug, obwohl er aussteigen hätte müssen. Ich spreche ihn darauf an, er gibt plötzlich ein völlig neues Ziel vor. Ich erkläre, dass ich ihm dafür ein Ticket verkaufen muss. Unwirsch verwickelt er sich in Bösartigkeiten, die ich nur schwer nicht persönlich nehmen kann. Nach meinem Verkauf ändert er erneut sein Ziel, ich händige ihm ein günstigeres Ticket aus und ziehe mich zurück.

Kurz bevor ich für meine Pause den Zug verlasse, bittet mich ein etwa 20jähriger in der 1. Klasse sitzend, während er in seinem iphone scrollt, ihm eine Fahrkarte auf Rechnung auszustellen. Etwas amüsiert darüber biete ich ihm zwei Möglichkeiten an: zu zahlen oder auszusteigen. Da er beides verweigert, nehme ich mein Telefon und rufe die Bundespolizei. Mein schauspielerisches Talent ist mir nützlich dabei, nur so zu tun als ob. Er springt mir gefährlich nahe entgegen, sagt „schmerk mir dein Gesicht, Hurnsonn!“ und läuft hinaus.

Eine Dame, die das beobachtet hatte, wirft mir entgegen: „Da wäre ihnen jetzt was abgefallen, oder, wenn sie ausnahmsweise mal ein Auge zugedrückt hätten?“ Während sie aussteigt erreicht mich ihr Echo noch: „Ein bisschen mehr Menschlickeit! Schadet keinem!!“ Nur einen Augenblick später folge ich ihr hier mehr oder weniger in meine Pause.

Und als ich auf einer der Ebenen dieses großen Bahnhofs entlang laufe, sehe ich am Boden sitzend einen Einbeinigen. Die Hände und das Gesicht schmutzig, die Haare lange nicht gepflegt. Ein Hund neben seinem rechten Bein, das er ausgestreck hat, nach ein paar Euro bettelnd. Davon genervt die Augen rollend geht die Dame an ihm vorbei, die gerade eben an meine Menschlichkeit appelliert hat.

Was genau wollte sie von mir?

Leave a Reply

Required fields are marked *

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.