Belebter Bahnhof. Ein Obdachloser versucht auf sich aufmerksam zu machen. Nicht anders, als es Jugendliche nach einem Bierbad tun. Eine Dame geht an ihm vorbei. In ihr Handy vertieft. Vor einigen Minuten hat sie mir noch abfällig entgegnet, dass an Menschen, wie ich einer bin, die Gesellschaft zugrunde geht. Interessant!
Es ist 4 Uhr Morgens. Der Lokführer begrüßt mich, der ich zum Zeitpunkt als Zugbegleiter unterwegs war, aufgebracht hoheitlich possesiv: „Ey, is‘ hier von euch noch keiner durch den Zug? Es mieft hier, dass mir alles hoch kommt.“ „Lasse er uns auf den Grund der Herkunft gehen“, erwidere ich scherzhaft königlich.
Wir stoßen nebst Mief auf einen Kerl. Aus seinem Schlaf gerissen faselt er sich etwas zurecht, auf seiner nächtlichen Fahrt eingeschlafen und dadurch über sein Ziel hinaus hier am Endbahnhof eingesperrt worden zu sein. Seine erklärte „Gefangennahme“ kann ich aus mehrerlei Gründen ausschließen. Trotz seiner Lüge erlaube ich ihm, die paar Stationen bis zu seinem eigentlichen Ziel mit mir zurückfahren zu dürfen. Ohne Ticket, aber bitte dringend wieder mit Schuhen. Darum bitte ich ihn.
Der Zug kommt in Fahrt. Ich laufe entgegengesetzt seiner ans andere Ende.
Dort erwartet mich ein gut gekleideter junger Mann. Etwas hibbelig. Er ist allein und bittet mich, ihm ein Ticket zu verkaufen. Dass er lallt beschäftigt mich weniger als die Frage, was ihn mir gegenüber derart außergewöhnlich respektvoll macht. Er ist kleinlaut. Ich überprüfe mein heutiges Auftreten und stelle fest: Warmherzig bis barmherzig. Aus der Innentasche seiner rot-schwarz karierten Jacke eine EC-Karte hervorgeholr, hält er sie mir mit den Worten entgegen: „Die geht jetzt wahrscheinlich nicht!“ Ich setze mich ihm in aller Ruhe gegenüber. Als hätten wir uns gerade im Café getroffen.
„Okay“, beginne ich, noch ohne die Bestellung aufgegeben zu haben: „Kein Geld auf’m Konto und auch keins bar dabei.“ Und ich spreche weiter, als fasse ich einen niedergeschriebenen Bericht zusammen: „Sie waren die ganze Nacht unterwegs, weil sie mit dem letzten Zug angekommen und zu weit gefahren sind. Zugesoffen, eingeschlafen. Sie haben gefroren, weil’s heute Nacht Minusgrade draußen hatte.“ Der blonde Typ nickt: „Ich wollte am Hafen noch einen Aal kaufen. Für meinen Papa.“ „Aha. Mitternachts waren wahrscheinlich eher wenig Fischer am Hafen, hm? Drum sind sie zur Tankstelle und haben sich lieber ’n Bier gegönnt.“ Ich kann mir nicht verkneifen lächelnd nachzuschieben: „Oder zwei, drei.“ Er lacht. „Kürzen wir das ab“, sage ich: „Wo müssen sie hin?“ Er hält mir seinen Personalausweis unter die Nase und sagt: „Den brauchen Sie, wenn Sie mir jetzt die Strafe ausstellen.“
Ich ziehe meine Augenbrauen zur Stirnmitte: „’ne Strafe? Haben wir beide nichts von! Ich ruf mal meine Kollegin kurz an, dass sie von mir zu ihr umsteigen und heute ohne Ticket noch nach Hause kommen.“ Bis zu seinem Umstieg unterhalte ich mich mit ihm. Gut, denke ich, dass ich so viel in meinem Leben gemacht und gelernt habe. Mein einstiges Studium zum Psychologischen Berater zahlt sich gerade aus. Ich erfahre eine Geschichte, die mich berührt. Sie ist schon beim bloßen Zuhören schwer; sehr schwer.
Er verabschiedet sich unter Tränen, dankend dafür, dass ich ihm zugehört habe: „Du bist echt ein toller Mensch, Florian!“ Weil ich zugehört habe? Ihm Zeit geschenkt habe? Weil ich ihn wahrgenommen habe? Ist das nicht das einzige, was wir Menschen wirklich leisten können? Da zu sein.
Der nächtlich Gefangene von vorhin ist noch im Zug, obwohl er aussteigen hätte müssen. Ich spreche ihn darauf an, er gibt plötzlich ein völlig neues Ziel vor. Meine Grenze der Barmherzigkeit ist erreicht. Entsprechend stelle ich ihm ein Ticket dafür aus. Er entscheidet sich, mit Unwirsch Bösartigkeiten zu bezahlen, die ich nur schwer nicht persönlich nehmen kann. Nach meinem Verkauf ändert er erneut sein Ziel. Ich händige ihm ein günstigeres Ticket aus und ziehe von dannen.
Kurz bevor ich für meine Pause den Zug verlasse, bittet mich ein Jugendlicher in der 1. Klasse sitzend, während er in seinem Iphone scrollt, ihm eine Fahrkarte auf Rechnung auszustellen. Etwas amüsiert darüber biete ich ihm zwei Möglichkeiten an: zu zahlen oder auszusteigen. Da er beides verweigert, nehme ich mein Telefon und rufe in aller Ruhe die Bundespolizei. Jetzt nutze ich alle Kenntnisse meiner schauspielerischen Laufbahn und stelle fest, dass ich dabei viel gelernt haben muss. Er springt sofort auf, mir gefährlich nahe entgegen, sagt „schmerk mir dein Gesicht, Hurnsonn!“ und läuft hinaus. Ich möchte sagen aggressiv.
Eine Dame, die das beobachtet hatte, wirft mir entgegen: „Da wäre ihnen jetzt was abgefallen, oder, wenn sie ausnahmsweise mal ein Auge zugedrückt hätten?“ Während sie aussteigt erreicht mich ihr Echo noch: „Ein bisschen mehr Menschlickeit! Schadet keinem!!“ Nur einen Augenblick später folge ich ihr. Mehr oder weniger. Ich habe Pause.
Lustig, denke ich bei mir. Der Obdachlose, an dem jene Dame Augen rollend und ihn abschätzig ignorierend vorbei stiert, hätte möglicher Weise auch gerne einen anderen, der ihn in seiner Situation wahrnimmt. Einfach nur ein wenig Menschlichkeit, für die sich keiner einen Zacken von der Krone brechen muss.
Das Verhalten von Menschen ist schon, wie soll ich sagen … interessant?